GENIAL FUNKTIONAL
VARIANTEN EINES SCHREIBTISCHES
Mit ihrer Vorbildung zur Tischlerin am Bauhaus verstand es Wera Meyer-Waldeck, sich von den Bedürfnissen der späteren Benutzer über das Material hin zum ästhetisch-funktionalen Endprodukt heranzutasten. Die Linien der Formen mussten klar sein, das Material nicht zu teuer, aber beständig und haptisch angenehm, ein bequemer Nutzkomfort wurde als unbedingte Notwendigkeit angesehen. Im Schreibtisch für die Internatszimmer der Bundesschule verwirklichen sich diese Anforderungen quasi formvollendet.
Das Design des letztlich produzierten Tisches lässt sich an einem Vorläufer von Wera Meyer-Waldeck und Josef Pohl sowie an einer überlieferten Entwurfszeichnung ablesen. Der Vorläufer ist noch heute in der Sammlung der Stiftung Bauhaus Dessau erhalten und kann mittlerweile in der Ausstellung des neuen Bauhausmuseums bewundert werden. Ein zerlegbarer Schreibtisch mit Zwischenstreben, die Beine leicht angeschrägt, in dunklem Holz. Dagegen zeigt der erste Entwurf des Schreibtisches für die Bundesschule bereits die für das finale Design charakteristischen abgerundeten Füße, doch die Beine sind hier gerade. In der Ausschreibung für die Möbeltischlereien – das Bauhaus hätte wohl die Kapazität nicht aufbringen können, allein 120 dieser Schreibtische für die Internatszimmer innerhalb kurzer Zeit zu produzieren – wurde ausdrücklich darum gebeten, Verbesserungsvorschläge aus der Möbelpraxis mit einzubringen. Die abgeschrägten Beine und zusätzlichen Querverstrebungen zur Stabilisierung der Tischkonstruktion sind aber wohl eher Wera Meyer-Waldecks Kooperation mit Josef Pohl zuzuordnen. Dieser Schreibtisch war vermutlich ihr Gesellenstück für die Abschlussprüfung in der Bauhaus-Tischlerei (im Bauhaus-Diplom wird ein Schreibtisch als Gesellenstück aufgelistet, ohne weitere Detaillierung).
Das Endprodukt sah dann so aus:
In hellem Rotbuchenholz mit schwarzer Linoleumschicht auf der Arbeitsfläche erscheint der Schreibtisch gleichzeitig luftig hell, passend zu den lichtdurchfluteten Zimmern, und robust, um möglichst lange Zeit die kommenden und gehenden Kursteilnehmer zu überdauern. Zwei Einzeltische, die 75 cm hoch, 65 cm tief und 95 cm breit waren, standen Rücken an Rücken aneinander, um den großzügigen Lichtraum vor den riesigen Glasfenstern im Internatszimmer optimal auszunutzen und bei Tageslicht arbeiten zu können. Die vorderen schräg stehenden Tischbeine boten Beinfreiheit nicht nur nach vorn, sondern auch seitlich. Abgerundete Tischbeine verhindern ein vehementes Aufkratzen des Bodenbelags aus grauem Walton-Linoleum. Das Tischblatt ist zu den Seiten und nach hinten hin durch schmale Blenden optisch der am rechten Rand des Schreibtisches vorhandenen Schublade angepasst.
Der ursprünglich mit dem Schreibtisch benutzte Stuhl ist kein Bauhaus-Produkt: der „Lehnstockerl“ (eine Wortbildung aus Lehne und Hocker) der Möbelfirma Gebrüder Thonet, mit der das Bauhaus über Jahre hinweg überaus erfolgreich die von Marcel Breuer entworfenen Stahlrohrmöbel produzierte und vertrieb. Er passte sich optisch der Schlichtheit und Funktionalität des Meyer-Waldeck-Schreibtisches an. Es ist wenig überraschend, dass sich Meyer-Waldeck für eine Kombination mit einem bewährten Stuhl entschieden hatte. Denn auch am Bauhaus wurde nur neu entworfen, wofür es noch nichts Überzeugendes auf dem Markt gab.
Das Bauhaus, besonders aber das Möbeldesign, das am Bauhaus unter Hannes Meyer entstand, ist für seine Effizienz und Funktionalität bekannt. Das zeigt sich in Meyer-Waldecks praktikablen Entscheidungen für Ausführungen des Internatsschreibtisches in gleich mehreren Varianten für die Bundesschule, an den jeweiligen Raum und den jeweiligen Nutzen angepasst: Für den Lesesaal wurden die Arbeitsflächen verschmälert (60 cm) und die Breite um einen Meter auf 2,40 m vergrößert, sodass insgesamt vier Schüler nebeneinandersitzen konnten. In der Mitte dieser großen Variante wurden weitere Tischbeine zur Stabilisierung eingefügt. Auch hier entschied sich Meyer-Waldeck für die Kombination mit einem altbewährten Stuhl, einem Drehstuhl der Firma Rockhausen (Modell K 32, Mahagoni). Im Lesesaal wurde vollkommen auf das Anbringen von Schubladen verzichtet, weil diese an diesem Ort schlichtweg keine Funktion gehabt hätten. In den Hörsälen stand eine weitere Variante des Tisches – in einer Ausführung mit breiterem Tischblatt von 140 cm und einer Verbreiterung auf 70 cm Tiefe. Gleichmäßig verteilt wurden zwei Schubladen angebracht, für zwei Personen pro Tisch. Auch diese Variante wurde mit demselben Rockhausen-Drehstuhl kombiniert wie im Lesesaal, nur hier in der hellpolierten Version.
Der Schreibtisch für die Bundesschule ist nur eines von vielen Möbelstücken, die unter dem Bauhaus-Direktorat von Hannes Meyers entstand. Er scheint aber für Meyer einen besonders repräsentativen Stellenwert für das Möbeldesign am Bauhaus gewesen zu sein, denn er war fester Bestandteil der Ausstellung „Volkswohnung“ zur Eröffnung des Leipziger Grassi-Museums und spielte auch auf der großen „Bauhaus-Wanderausstellung“ in der Präsentation der Bundesschule eine wesentliche Rolle.
Heute existiert – soweit bekannt – kein Original dieser Schreibtische mehr. Nach der Besetzung der Bundesschule durch die NSDAP im Mai 1933, aber spätestens mit dem kurzzeitigen Leerstand nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde, was nicht ohnehin bereits ersetzt worden war, geplündert, zum Heizen verfeuert oder unter der Hand verkauft. Bisher ist keines dieser Möbelstücke auf dem Antiquitätenmarkt aufgetaucht. Im Förderverein der Bundesschule befindet sich allerdings ein Nachbau des Tisches des Überregionalen Ausbildungszentrums Berufsförderungswerks Wriezen (ÜAZ) sowie zwei originale Thonet-Stühle, die aus der gleichen Serie stammen wie die Stühle, die um 1930 in den Internatszimmern der Bundesschule standen. Ein kleiner Trost, der das genial funktionale Schreibtischdesign von Wera Meyer-Waldeck wiederaufleben lässt und nachvollziehbar macht.